Magischer Ort im Herzen Europas
Wer heute das Mendelssohn-Haus betritt, begibt sich ins Licht. So sagte es eine Besucherin aus Frankreich kürzlich im Museum: „Cette maison, c’est la lumière!“ Welch schönes Kompliment und treffender Vergleich! Denn es ist wahr: Ein Besuch des Mendelssohn-Hauses ist etwas Helles, Schönes, Wohltuendes. Unabhängig von Wetter, Tages- und Jahreszeit. Ja, Felix macht glücklich! Der Gedanke an Felix ist ein schöner Gedanke, wir lächeln, wenn wir an ihn denken. Dieses warme, gute Gefühl beim Betreten des Mendelssohn-Hauses stellt sich unmittelbar und nahezu mit Garantie ein. Der geschätzte Journalist Jan Brachmann von der FAZ hat dies so schön beschrieben, dass mir hier sein Zitat erlaubt sei:
„Man müsste eigentlich und man könnte leicht einen ganzen Tag an diesem herrlichen Ort verbringen. Könnte sich festsetzen auf einem der grazilen Biedermeierstühle im Erdgeschoss und über einen Touchscreen durch Autographe und Erstdrucke der Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy surfen oder ihnen über Kopfhörer mit den Ohren folgen. Man könnte das eine oder andere gute Stück, das Finale der „Schot- tischen Symphonie“ oder die Ouvertüre zu Shakespeares „Sommernachtsraum“, sogar dirigieren: nebenan, im „Effektorium“, mit einem Laser-Bewegungsmelder, der auf die eigenen Taktstockschläge reagiert. Eine interaktive Partitur gestattete einem dazu, einzelne Registergruppen aus dem Orchester herauszufiltern. Man könnte verweilen vor den originalen Möbeln im Arbeitszimmer, wo der „Elias“ komponiert wurde, und dann, einen Moment lang innehalten, in dem Raum, in dem am 4. November 1847, gegen neun Uhr abends, das nur achtunddreißigjährige Leben von Felix Mendelssohn Bartholdy jäh zu Ende ging.“
Vor über 25 Jahren ist dieses Haus in der Goldschmidtstraße, vormals Königstraße, der letzte Ort, an dem Mendelssohn gelebt hat, als Museum eröffnet worden und es ist wohl eines der schönsten Musiker-Museen geworden, die wir kennen.
Wer die Beletage im ersten Geschoss betritt, begegnet zunächst Mozart, Haydn, Beethoven, den Vorbildern der Klassik und Wegweisern in die Romantik. Wir erblicken Mendelssohns Zeitgenossen und Wegbegleiter, Goethe zum Beispiel, Alexander von Humboldt und Frédéric Chopin, und schreiten langsam weiter durch die Räume, über knarrende, originale Dielen, wir öffnen Vitrinen, lesen, sehen, staunen und lächeln. Und wir stehen plötzlich im Musiksalon, und spüren nun ganz deutlich die besondere Wirkung des authentischen Ortes. Hier können wir sie plötzlich sehen, Felix und Cécile und ihre Gäste, Josef Joachim, Clara und Robert Schumann, Louis Spohr, und all die anderen Berühmten und wir hören ihre Gespräche und ihre Musik. Es ist wahrlich ein „magischer“ Ort, wie Ralf Wehner es einmal formulierte, ein Ort des Lichts und ein Ort der Lichtgestalten, den man nicht vergisst. Hier lässt sich erahnen, wie Mendelssohn gelebt und gefühlt hat, wie er und seine Zeit wirklich waren. Dies ist die Wirkung, die sich nur hier einstellt und die wohl auch deshalb so stark ist im Wissen, dass er nur wenige Meter weiter verstarb.
Felix Mendelssohn Bartholdy war Komponist, Pianist, Dirigent, Zeichner und Verfasser einer immensen Korrespondenz. Er gab den Menschen die Musik Johann Sebastian Bachs zurück, erneuerte während seiner zwölf Jahre als Gewandhauskapellmeister das Konzertwesen grundlegend und für folgende Generationen maßgeblich, sicherte dem Klangkörper die städtische Trägerschaft und gründete in Leipzig das erste Konservatorium im deutschsprachigen Raum. Kaum ein Mensch hatte und hat ähnlich viel zu geben wie er.
Leipzig bot Mendelssohn dazu die Möglichkeiten. Hier traf er auf eine durch Handel und Messe wohlhabende, weltoffene Bürgerschaft mit Kunstsinn und Ambitionen, auf Gewandhausorchester, Thomanerchor, Oper, Musikverlage und Instrumentenbauer mit Verbindungen in alle Welt.
Mendelssohn veränderte von Leipzig aus die Welt der Musik und machte es zur Musikweltstadt. Kaum ein Künstler wurde jedoch in einer Stadt ähnlich gut und schlecht behandelt wie Mendelssohn in Leipzig. Im 19. Jahrhundert aus antisemitischen Ressentiments an den Rand gedrängt wurde die Zerstörung des Mendelssohn-Denkmals vor dem Gewandhaus am 9. November 1936 zum Fanal für die Menschenverachtung der Nazi-Diktatur. Insofern lässt sich das Mendelssohn-Haus auch als Zeichen des Gutmachens und der Hoffnung verstehen; genauso wie die Rekonstruktion des Denkmals, welches 2008 an der Thomaskirche wiedererstand.
Mendelssohn begegnete Leipzig am Beginn einer neuen Zeit. Der Aufbruch des jungen 19. Jahrhunderts in die Moderne geht einher mit seinen neuen technischen Wundern: der Eisenbahn, der technischen Kommunikation, den neuen Möglichkeiten der Vervielfältigung von Literatur und Musik. Neue Gedanken, Kunst und Künstler können nun freier und schneller als je zuvor Grenzen überschreiten. Europa steht damit am Beginn der Entwicklung einer neuen, gemein- samen kulturellen Identität, die Mendelssohn prominent verkörpert. Bereits als Kind reist er mit dem Vater nach Paris, als junger Mann nach England und Italien. Er lernt die Europäer kennen, spricht ihre Sprachen und wird verstanden. In London, das er in seinem kurzen Leben zehn Mal besucht, ist er bekannt und berühmt. Die humanistischen Ideale der Toleranz, Bildung, Menschlichkeit und des Respekts und der Wunsch, Anderes und Andere kennenzulernen, liegen in seiner Familiengeschichte und Natur begründet und prägen sein ganzes Leben. Felix Mendelssohn Bartholdy ist ein Europäer der ersten Stunde. Auch diese Dimension lässt sich im Mendelssohn-Haus spüren im Sinne einer Zeitreise zum Anfang Europas als kulturelle Gemeinschaft. Heute droht Europa zunehmend der Verlust von Gemeinschaft. Europas Menschen scheinen sich kulturell abzugrenzen, die Gemeinschaft wird als Belastung und Bedrohung empfunden mit tragischen Konsequenzen. Wer hätte noch im vergangenen Jahr einen Krieg unter Europäern für möglich gehalten? Das Mendelssohn-Haus ist daher heute auch eine Erinnerung an die Idee Europas als kulturelle Gemeinschaft, eines Europas im Geiste Mendelssohns.
Wir verdanken dieses Haus den Leipzigerinnen und Leipzigern, vor allem einem unter ihnen, Kurt Masur. „Es ist der Reichtum seiner Musik und die tiefe Menschlichkeit seiner Werke, die mich so ansprechen“, begründete Masur einst seine tiefe Zuneigung zu Mendelssohn, die wohl einer Seelenverwandtschaft nahekommt. Immer wieder und überall zeigte er den Reichtum der Musik Mendelssohns, mit dem Gewandhausorchester genauso wie mit seinen Orchestern in New York, London und Paris. Mit der Eröffnung des Museums zum 150. Todestag Mendelssohns 1997 ging Masurs Herzenswunsch in Erfüllung. Wir empfinden für diese Leistung größte Dankbarkeit im Bewusstsein der damit verbundenen Verantwortung. Und wir sind sehr glücklich, dass Tomoko Masur diesen Herzenswunsch teilt und das Mendelssohn-Haus und das Kurt-Masur-Institut leidenschaftlich und mit größtem Engagement unterstützt.
Das Mendelssohn-Haus gehört seit Anbeginn zur Identität Leipzigs. Die Leipzigerinnen und Leipziger kennen es von Schulbesuchen, Kinderfesten, Sonntagskonzerten, Kammermusiken, Führungen, Ferienprogrammen, Familiennachmittagen, Tagen der offenen Tür, Museumsnächten und Hochzeiten. Sie kennen den Musiksalon und das berühmte Arbeitszimmer genauso wie das „Effektorium“, das Dirigierzimmer, welches viele jeden Alters so sehr begeistert, sie kennen „Fannys Welt“, die Kurt-Masur-Ausstellung und den herrlichen Garten zu allen Jahreszeiten. Und sie haben das berühmte Hildebrandt-Porträt des jungen Mendelssohn vor Augen, eine Ikone der Musikgeschichte, dessen Blick und Lächeln man – der Mona Lisa gleich – nicht vergisst. Das Mendelssohn-Haus ist ein magischer Ort für Alle, geöffnet an allen Tagen des Jahres. Dass dies gelang und täglich aufs Neue gelingt, ist den Menschen zu verdanken, die es erhalten, gestalten und mit Leben füllen. Jürgen Ernst leitete das Haus und die Stiftung an der Seite Kurt Masurs von Anbeginn bis zum vergangenen Jahr. Ihm und seinem engagierten Team gebühren höchste Anerkennung und größter Dank.
Über viele Jahre war die Entschuldung des Hauses wichtigstes Ziel. 2009 feierte die Musikwelt nicht nur den 200. Geburtstag Felix Mendelssohn Bartholdys, sondern das Mendelssohn-Haus wurde auch frei von Lasten. Das seinerzeit zum Erwerb benötigte Darlehen war zurückgezahlt und der Stiftung damit ein neuer, viel breiterer Handlungsspielraum und Bedeutungszuwachs gegeben. Es ist eine der großen Leistungen der Stadt Leipzig und ihres Stadtrates, aber auch des Regierungspräsidiums, dass diese zügige Entschuldung möglich war. Unterstützt wurden und werden sie durch Menschen in aller Welt, die Mendelssohn und das Mendelssohn-Haus im Herzen tragen. Beispielhaft für viele seien genannt Kazoi Watanabe in Tokio, Emiko Tsuji in Osaka, Ulrike Krill de Capello und Jenny Faugerat in Paris, Desmond und Ruth Cecil in London, Wulff Aengevelt in Düsseldorf und Werner Martin in Berlin.
Genauso seien für die vielen großartigen Künstlerinnen und Künstler, die im Mendelssohn-Haus waren, beispielhaft genannt: Isaac Stern, Anne-Sophie Mutter, Lang Lang, Alfred Brendel, Kit Armstrong, Yo Yo Ma, Elisabeth Leonskaja, André Previn, Igor Levit; und immer wieder die Musikerinnen und Musiker des Gewandhausorchesters, die Lehrenden und die Studierenden der Hochschule für Musik und Theater. Ihnen allen gilt unsere Bewunderung und unser Dank von Herzen. Genauso wertvoll ist die Arbeit der Mitglieder des Stiftungsrates und Vorstands und die Unterstützung durch den Förderverein. Zudem sind die steten jährlichen Förderungen der Stadt Leipzig, des Freistaates Sachsen und der Bundesregierung nicht hoch genug zu schätzen. Ohne sie wären der Betrieb des Museums, die Konzerte und die Angebote für Kinder und Jugendliche überhaupt nicht möglich.
Dankbar sind wir auch dem Gewandhaus zu Leipzig und dem Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig für die Kooperation, die Leihgaben und unzählige freundschaftliche Hilfestellungen. Allen, sei es privat oder in institutioneller Funktion, die das Mendelssohn-Haus regelmäßig oder auch nur einmal unterstützt haben und unterstützen, gilt unser Dank. Dass sie nicht nur in Leipzig, sondern auf der ganzen Welt zu finden sind, macht uns besonders stolz. Die wunderbare Entwicklung, die das Mendelssohn-Haus nahm, haben wir vor Augen: 2014 gelang mit dem Ausbau des Erdgeschosses, mit der Mediathek, dem „Effektorium“ sowie „Mendelssohns Welt für Kinder“ der Schritt in die moderne Vermittlung. 2017 folgte der Ausbau der zweiten Etage mit der ständigen Ausstellung zu Felix’ berühmter Schwester Fanny sowie die Eröffnung des Internationalen Kurt-Masur-Instituts mit seiner Kabinettausstellung und zahlreichen Aktivitäten. Eine jüngste Veränderung in der Präsentation der Beletage ist die Neugestaltung des Zimmers, in dem der Komponist verstarb. Und auch künftig wird es Erneuerungen, Ergänzungen und Erweiterungen geben, die der Unterstützung vieler bedürfen.
Das Projekt eines ganzen Hauses für Mendelssohn ist bestens gelungen und vollendet. Nun gilt es, das Haus und das Erreichte zu erhalten, weiter zu entwickeln und in die Welt zu tragen. Die Digitalisierung bietet dazu hervorragende Möglichkeiten. Wer hätte über 25 Jahren gedacht, dass die Konzerte, Gespräche und Themen des Mendelssohn-Hauses einmal als Online-Premieren ein weltweites Publikum finden? Mendelssohn war Europäer und Weltbürger. Wir sind sehr glücklich, dass mit Elena Bashkirova eine Künstlerin und Weltbürgerin als Präsidentin an unsere Seite getreten ist und unser Haus mit großer Leidenschaft und ihrer Musik unterstützt.
Das Mendelssohn-Haus hat seit seiner Gründung unendlich viele glückliche Momente, Fügungen und Begegnungen erlebt, und viele Menschen glücklich gemacht. Es waren gute, ja sehr gute Jahre für Mendelssohn und für die Musikstadt Leipzig. Wir verdanken dieses Vierteljahrhundert der Lichtgestalt Mendelssohn und den Menschen, die seine letzte Wohnstätte erhalten haben, für uns und künftige Generationen, als einen Ort des Lichtes, als magischen Ort, als Mendelssohn- Haus Leipzig.